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Alt 01.12.2004, 17:04
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Susanne Susanne ist offline
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Registriert seit: 30.11.2003
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Susanne BoteSusanne Bote
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..........und da fahren wir jetzt also Richtung Berge. Ich denke an die vielen Aufbrüche meines Lebens. An die Aufregung, die Spannung, die rasende Vorfreude auf das Unbekannte. Würde ich am Abend irgendwo ein Bett haben zum Schlafen? Am Morgen Kaffee zum Frühstück? Würde ich Mittags bereits auf einem Schiff sein? Wäre das Meer stürmisch, würde das Salz auf der Haut brennen und ich in meinen klammen Hosen und dem steifen Pullover frieren? Göttlich, diese Gefühle, ich war so lebendig damals! Und jetzt sitze ich in meinem vollklimatisierten, dezent vor sich hinsummenden Alfa, den Geruch von Lederpolitur in der Nase und trauere dem Bandscheiben erschütternden Rumpeln des mexikanischen Busses und diesem Gestank nach Hühner******* und Kleinkinderkotze nach...
Und wieder bin ich an diesem Punkt angelangt: Ist die Verwirrung der letzten Tage ein schizophrener Schub oder eine Vorwehe der Midlife-Crisis? Sabine legt ihre Hand auf mein Bein und meint mit einem Lächeln in der Stimme: "Ich freue mich schon so darauf, am Abend am Wasser zu sitzen und einfach dem Plätschern zuzuhören." Überrascht spüre ich, wie meine Kehle eng wird und meine Augen zu prickeln beginnen. Sie sehnt sich auch? Nach Einfachheit? Nach Identität? Nach Natur? Warum bloß schaffe ich es nicht, diese wirren Gedanken auszusprechen? Ich habe doch früher über alles mit meiner Frau geredet. Wir hatten oft bis 4 oder 5 Uhr morgens an einem Feuer gesessen und uns von unseren Träumen und Erinnerungen erzählt. Unsere Wesensverwandtschaft hatte uns schließlich ein Paar werden lassen und zu dieser engen geistigen und emotionalen Verbindung kam eine warme, leidenschaftliche körperliche Basis hinzu.
Bei all dem Gegrübel habe ich es gar nicht realisiert, dass die Ebene sich zu Hügeln zu wölben beginnt und diese schließlich zu kleinen Bergen aufwerfen. Zwischen Föhrenwaldinseln glitzern hier und da bereits kleine Teiche und Seen. Sabine öffnet das Fenster einen Spalt - was natürlich die ganze Klimatisierung über den Haufen wirft, aber es lohnt sich: Herein strömt etwas so köstlich Prickelndes, dass es keine Ähnlichkeit mehr hat mit der Luft meines Büros oder unseres Straßenzuges. Auch Sabine atmet ganz tief durch und sagt etwas Erstaunliches: " Mit jedem Ausatmen werde ich jetzt den Schmutz der Stadt, aber auch meiner Gedanken und Gefühle rauslassen. Ich möchte ganz sauber sein, wenn wir ankommen." Dabei lächelt sie wieder, und zum ersten mal seit Tagen spüre ich wieder dieses Vertraute, dieses Vertrauen. Noch zwei Kurven auf der Schotterstraße, ein dunkles Stück Fichtenwald mit Moos und Baumbärten, dann wird sich das Tal zum Haus am See hin öffnen.
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