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Alt 14.03.2004, 13:22
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Susanne Susanne ist offline
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Susanne BoteSusanne Bote
Standard Geschichten erzählen in verschiedenen Kulturen

Meine Lieben!
Einerseits amüsiert, andererseits ein bisschen traurig stelle ich fest, dass unsere Geschichte nur von drei Leuten weitererzählt wird: Emanuel, unserem großen Sohn, und mir, die wir in unserer Begeisterung für Fantasy immer wieder in dieses Genre abschlittern (aber mit großem Vergnügen!!) und Thomas, der verzweifelt versucht, der Geschichte immer wieder einen Hintergrund zu geben, der IRGENDWIE ZUM THEMA PASST. Sonst kommt nichts.

Fragen dazu, die ich hiermit ins Forum stelle:
1) Was ist eine Geschichte für euch?
2) Wer erzählt Geschichten?
3) Wozu erzählt man Geschichten?
4) Wann werden Geschichten erzählt?
5) und zuletzt: Wo erzählt man Geschichten?

Nun, ich habe meine Antworten bereits vor langer Zeit in verschiedensten Kulturen gefunden:
Z.B. eine Freundin von mir, die ein Stipendium in Afrika hatte, um das Geschichtenerzählen dort zu erforschen: Voller Begeisterung kam sie zurück und berichtete, wie das dort abläuft: Es gibt zwar einerseits offizielle Geschichtenerzähler, die die Funktion haben, mündlich überlieferte Traditionen weiterzuvermitteln und außerdem tagespolitische aktuelle Themen mit der Bevölkerung aufzuarbeiten. Das läuft dann so ab: Der Erzähler beginnt in Anspielung auf einen tyrannischen Bürgermeister von einem Zauberer zu erzählen, der mit seiner Magie ganze Länder unterwirft und sich seine Herrschaft durch Angst und Schrecken sichert. Die Zuhörer sind aber nicht passiv, sondern sie arbeiten am Verlauf der Geschichte mit durch Zwischenrufe, durch ein, zwei Sätze, die der Geschichte einen anderen Verlauf geben, durch Gelächter und Ächzen und Stöhnen. So werden soziale und politische Ereignisse miteinander unter den verschieden Gesichtspunkten betrachtet und auch nach Lösungsmodellen gesucht. Und das funktioniert! Andererseits ist das Geschichtenerzählen aber auch Teil des täglichen Lebens - man braucht nicht immer zu sagen: "Du blöde Kuh, kehr gefälligst deinen Dreck nicht immer in meinen Garten herüber!", sondern man könnte auch eine kleine Geschichte zu diesem Thema erzählen, wenn man sich zufällig am Dorfbrunnen über den Weg läuft...
Ähnlich verhielt es sich bei einer mir bekannten Roma-Familie (allerdings muss ich da einschränken: so war´s, bevor Fernseher und Video diese Stelle einnahmen!)
Am Abend setzte sich die ganze Großfamilie um einen Mittelpunkt wie Feuer, Herd oder so und begann zu erzählen. Ähnlich, wie dem Thomas und mir das für unser Forum vorgeschwebt hat, ging das Wort reihum, und jeder, der an der Reihe war, spann die Geschichte ein bisschen weiter fort. Einer begann z.B. rein aus kreativer Freude mit den Worten: "Und das kleine Mädchen, das im Wald Holz sammelte, stolperte, und als sie aufsah, stand die hässliche alte Babajaga vor ihr, stopfte sie in ihren großen Korb und trug sie zu sich nach Hause." Der nächste war vielleicht nicht so in Stimmung, die Geschichte rein aus künstlerischen Motiven heraus weiterzuerzählen - er hatte eine Menge Zorn im Bauch, weil er Ärger mit der Polizei gehabt hatte und erzählte folgendermaßen weiter: "Die alte Babajaga steckte das kleine Mädchen in einen Käfig, um sie später in ihrem Süppchen zu kochen, aber das Mädchen war schlau: Es lenkte die Alte ab, indem es kleine Steinchen in das andere Eck der Hütte warf, hakte des Schloss mit seiner Haarnadel auf und rannte davon." Damit hatte dieser dann wenigstens in seiner Phantasie der Obrigkeit, die ihn so geplagt hatte, ein Schnippchen geschlagen, und zufrieden gab er das Wort weiter. So wurden Abend für Abend lange Geschichten gewoben, manchmal schöne, manchmal lustige, manchmal sehr traurige und manchmal Nonsens-Geschichten, die aber auch viel Spaß machen können. Funktion hatten sie aber ganz eine ähnliche wie in Afrika: Sich den Ärger des Tages von der Seele zu erzählen, seine Gefühle mit anderen zu teilen, Gemeinschaft zu schaffen.
Soweit mir bekannt ist, betrieben´s verschiedene Stämme der noramerikanischen Natives ganz ähnlich: da gibt es z.B. die Koyote-Geschichten, die von viel Missgeschick und Tollpatschigkeit handeln und noch v.a.m. Aber dazu werde ich demnächst einen Experten auf diesem Gebiet befragen.
Nun, auch bei uns wurde das zumindest früher so gehandhabt: Vor allem Frauen saßen an den Winterabenden beim Spinnen (und das eignet sich als Hintergrundtätigkeit ganz besonders gut, weil es durch diese Regelmäßigkeit einen so schön in einen feinen Trance-Zustand törnt) und Flicken und Stricken und Nähen und erzählten sich Geschichten...
Fazit:
Story-telling ist eine leider fast ausgestorbene Kunst, die unendlich viele Facetten hat und noch mehr Funktionen. Es soll Spaß machen, keiner soll sich irgendwie durch Sprache und Stil daran gehindert fühlen, weiterzuspinnen - jeder hat was zu sagen, ganz gleich, WIE das rüberkommt. Und jeder Beitrag ist eine Bereicherung und gibt der Geschichte neue Richtungen und neue Gesichter. Ich würd mich unheimlich freuen, wenn Ihr Euch trauen würdet! Ich freue mich schon sehr auf die eine oder andere Zeile, die der Geschichte einen ganz neuen Kick gibt, oder das Kapitel, mit dem sich einer seinen Frust bei der Arbeit von der Seele schreibt oder einfach dem Spaß am Fabulieren freien Lauf lässt!!!
Ich würde mich auch über Antworten auf diesen meinen Erguss freuen.

Eure Susanne
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